Von ‘Die Wochenschau’ no. 4324 Oktober 1914
'Quer durch Belgien'

Die Belagerung von Antwerpen

 

Das war eine hehre Stunde: Feldgottesdienst auf feindlichem Boden. Rauchende Trümmer, Qualm und Brandgeruch, Brüllendes Vieh, verloren und verlassen in der Dunstweite der endlosen Wiefenflächen. Und sonst tote Stille. Friedhofsgrauen!

Das war in Battice, im Herver Land, in der Provinz der delikaten Käschen. An den Bauernhöfen auf den Kannenbänken sind sie aufgereiht, oder auf den Fensterbänken bis zum Dache hinauf. Die Käse, deren Ausdünstung den stärksten Mann umwirft.

In dieser Käseprovinz sind die Franktireurnester Herve und Battice stark beschossen worden. Battice, das ich kurz vor dem Ausbruch des Krieges noch friedlich durchwandert habe, besaß saubere, helle Häuser, blühende Vorgärtchen, die engen Straßen waren wie aufgewaschen. Und in diesem genügsamen Wohlstande lebte ein Volk dem das Blut gärt, lebhafte, rasche Menschen. Man muh sie in den Dilettantenvorstellungen ihrer Vereine gesehen haben — geborene, wild gestikulierende Schauspieler.

Und diese Schauspielertemperamente haben nun in dem grausigsten Menschheitsdrama mitgespielt.

Diese Erinnerungen tauchten mir auf, als der Feldgeistliche vor dem zum Altar hergerichteten Tische stand, den goldenen Kelch in erhobenen Händen, die Morgensonne blitzend in seinem leuchtenden Gold. Die Krieger, bärtige Männer, liegen auf den Knien — und hinter ihnen stiegen noch Säulen von Qualm auf aus der Verwüstung. Hell klang das Glöckchen des Messedieners.

Aber drüben die Landstraße herauf mit Klirr und Klarr und Marsch und Trab kommen Deutschlands Regimenter, immer mehr, immer mehr. Die Erde dröhnt — Schüsse hallen weither aus der Hunstweite. Ein paar Häuser liegen da am Wege, eine Hütte mit steilhohem Dache. Ein Auflauf von Soldaten davor. Hinter dem Hause hat man geschossen. Man stürmt in die Hütte hinein. Eine Siebzigjährige ist darin, sie weiß nichts: sie schüttelt den schlohweißen Kopf; sie hat niemand, der in ihrem Hause schießen könnte. Und da fällt wieder ein Schuß, aus dem Keller heraus. Jetzt Maschinengewehr vors Haus! Da sprengt ein Offizier an. „Die alte Mutter raus! Ein Soldat bringt sie, stützt sie. Sie kaut erregt mit dem zahnlosen Mund, sie nickt, sie nickt sehr befriedigt. „Die alte Mutter raus!" hat der „Prussien" gesagt. „Die alte Mutter raus! Gott segne ihn!" Und nun will sie es sagen: in ihr armes Häuschen haben sie sich versteckt, die Nachbarn, geschossen haben sie; und nun mag der Teufel sie stückweise holen! — Und sie geht und weint und sieht das steilhohe Dach brennen.

Die Verwundeten schleppten sich in die Büsche. Keinen Trunk Wasser nahmen sie von den Bewohnern an, mißtrauisch wehrten sie ab. Und da sah man das schöne Bild in der grünen Wiefenflur: Die Zisterzienser von Gottestal in ihren weißen Kutten und den schwarzen Skapulieren kamen und brachten die Verwundeten in ihre alte, ehrwürdige Abtei. Ein Strohlager in den breiten, hallenartigen Kleuzgängen, ein deutscher Pater (der einzige in der Abtei), der ihnen Trost zuspricht. Monumental, in majestätischer Einsamkeit liegt sie im Gottestal, die Abtei. Nebenan ein bäuerisches Kaffeehaus Wallfahrer von nah und fern kehren ein. Als erlesene Seelsorger sind sie weit ins Land hinein bekannt, die Mönche von Gottestal. Die Umwohner brachten ihnen Lebensmittel für die Verwundeten, dieselben Leute, die abends in ihre Häuschen zurückkehren und hocken und stieren und warten, bis die Freudenschüsse dröhnen, die die Franzosen, die Retter, ankündigen sollen!

Man hat sie immer herzhaft gehaßt, die „Prussiens". Und da sie ins Land einbrachen, verhöhnte man sie. Jetzt fürchtet man sie. Van duckt sich vor ihnen, man sagt ja und Amen, man muckst nicht mehr. Aber der Boden dieses Landes bleibt heiß und gefährlich. Die Hoffnung erhält sie alle wach und lauernd. Die Traktätchen, die heftographierten Zeitungen, die ihnen heimlich zugeschoben werden, erhalten ihnen fanatisch die trügerische Hoffnung.

Ein Männchen, ein dürres, läuft da aus seinem Hause, läuft von Tür zu Tür, raunt es diesem und jenem zu: „Die Deutschen auf dem Rückzug, verlassen Brüssel, aber nicht weiter sagen, jurez!" Und von Mund zu Mund gehts': „Jurez! Jurez!" ... Und so springt der heimliche Funke, und so züngelt das heimliche Feuer heute noch im belgischen Land weiter, mit vielleicht noch größerem Erfolg als die nun mundtot gemachten Hetzblätter „Le Soir" und der Brüsseler „Petit Bleu".

Brüssel ist heute die Stadt auf dem Vulkan. Man weiß nicht, wann die Katastrophe losbricht. Während Lüttich wieder äußerlich in die landläufig bürgerliche Bahn einlenkt, schwängern in Brüssel noch tausend Volt die Luft. Brüssel, die Entthronte! Die galante Straßen-temperatur in dieser Stadt ist dahin. Was ist Brüssel ohne Fremde? Und Brüssel hat jetzt keine Fremden mehr, die in ihm Klein-Paris bewundern. Brüssel Hut keine Deutschen mehr, die sich von den Droschkenlutschern, die ihre Prozente empfangen, zu dem Spitzen-Haus in der Rue St Gudule schleppen lassen, um mit echten Brüsseler Spitzen und leerem Geldbeutel in die Heimat zurückzukehren. Diese Fremdenstadt ohne Fremde ist jetzt ein Zwitterding. Sie ist nicht wallonisch, nicht flämisch, nicht sozialistisch, nicht klerikal, nicht neu, nicht alt — sie war vielleicht ein Kunterbunt von allem, eine Königin mit vielstrahligem Diadem. Und da sie die Entthronte ist, nicht Diadem und Purpur mehr hat, sieht man, daß sie nie eine Königin war vielleicht nur eine kokette alte Dame.

Aber eben dies Alte war und ist ihr Glanz. Es leuchtet aus jahrhundertschatten heraus. Äußerlich ist diese Erinnerung abgestreift. Sie weht noch um die alten, verschnörkelten Zunfthäuser. Oder auch in dem Flamenwinkel in der Rue haute, wo die Gäßchen so schmal sind, daß man mit ausgebreiteten Armen kaum durchkommen kann, oder wo der sogenannte Flohmarkt seine Trödlerbuden etabliert hat. Hemdärmelig wohnen sie vor ihren Häuschen, lagern bis auf die Straße hinaus, lieben sich, prügeln sich, beten und fluchen. Und als Pitje und Meisje nicht heiraten konnten, weil sie nicht Tisch und Nett hatten, rafften sich die schweren Weiber, die starkknochigen Weiber, die ihre guten Worte hart auf der Zunge rollen lassen, auf, legten „ein Paar Guldens" zusammen und sorgten, daß Pitje und Meisje Hochzeit machen tonnten.

„Achtung! Straße gesperrt!" Ein Feldgrauer, Gewehr im Arm. Man weicht höflich, sehr höflich aus. „Oui, mon capitaine, oui!" Parblen. man wird sich von diesen „grauenTeufeln" doch keine Ladung Blei in den Leib schießen lassen!

 

 

IV. Aus Belgiens Todesstunde

Die Agonie hat begonnen. Die Totenglocken läuten über Antwerpen, der Grabgesang unserer 42er. Den letzten Tropfen aus dem Leidenskelch hat Belgien schlürfen wollen. Belgien hat sich selbst ein Grabmal von Leichen aufgetürmt. Heute noch rauchen die Schlünde, die ihm den Todesgruß auf himmelhoher Flugbahn hinübergetragen. Eingegraben in die Erde stehen die Mörserungetüme. Die langen Rohre schießen senkrecht in den hohen Himmel hinein. Die Bedienungsmannschaft sieht nicht das Ziel, auf das sie losprotzen muß, Berg und Tal, Hügel und Haus, Dorf und Wald liegen dazwischen. — Mehrere Kilometer von dem Geschütz entfernt schwebt der gelbe Fesselballon, aus dein der Zielschätzer durch Fernsprecher die Entfernung mitteilt. Fertig — abfeuern! — Ein gewaltiger Feuerball flammt auf, aus dem Schlund des Rohrs heraus ein Donnerschlag, der die Mann schaft hinschleudert — ein dumpfbrausendes Eisenlied. Schwindelnd hoch jagt der Todesbogen, das Iischen wird zum Pfeifen, das Pfeift zum heisern Schrillen — und höher und höher und noch das Pfeifen in den Lüften — zwanzig Minuten lang glaubt man's zu hören — und bricht jäh ab in einem donnertosenden, furchtbaren mörderischen Krachen.

Der Treffer faß. Umgebrochen wie Riefenstilze liegen die Artillerieköpfe der Panzertürme, auseinandergeborsten die Drehtürme, zu Mörtel und Geröll zerschlagen. Gigantische Felsblöcke sind in die klaffenden Abgründe hinabgestreut wie Kinderfpielzeug. Entschalte Eisengestelle, Räder- und Kettenwerk starren aus der schrecklichen Vernichtung hervor.

Die Beschießung von Antwerpen hat begonnen — Das war kurz und bündig die Zeitungsmeldung. Da sagte mir ein wallonischer Familienvater: „Glauben Sie, daß man den Kanonendonner auch in Gheel hören wird?" Er fragte das in verstörter Traurigkeit. Eine Welt voll Entsepen zitterte aus seiner Frage. Ob man den Kanonendonner auch in Gheel hören wird —

Und dann las man wieder: Man hat die Irrenkolonie in Gheel in Sicherheit gebracht. — Dieser und jener mag's gelesen haben, flüchtig, nichtssagend, nichts empfindend, und seine Seele erschauerte nicht. Wer weih denn, wie das in Gheel ist, wer nicht einmal dort war?

Wer von Antwerpen herüber oder von der deutschen Seite her mit der belgischen Zentralbahn zufällig Gheel berührte und nichts von der Stadt der Unglücklichen wußte, wird onseltsamen Geheimnissen und Merkwürdigkeiten überrascht worden sein.

Wir sahen Gheel an einem Frühjahrsmorgen. Die Schafe blökten in zahlreichen Herden auf den Feldern. Die Webstühle rasselten in den kleinen, aber wohlhabenden Hänsern. An Werkbänken vor den Häusern kneteten stumme Männer mit schlaftrunkenen Gesichtern Wachslichter. Wir riefen sie an, wo man Benzin kaufen könne. Sie schreckten nervös zusammen und krochen in die Häuser zurück wie scheue Rehe, die an den Waldrand heranstreten sind beim ersten Menschenschritt zurück ins Dickicht flüchten.

Und einer im Vorgalt: eines bäuerischen Hauses, dessen Wand mit einer dichten Hecke wachsgelber Rosen bewachsen war. Er stand auf einer Leiter und bastelte an den Ranken. Ein kindliches Lächeln in dem verfallenen Gesicht. Ob er uns eine Rose schenken wolle?

In bedächtigeln Staunen weiteten sich seine versunkenen Augen. Er machte den Mund auf und zu, ohne daß ein Wort hörbar wurde, als sei er lange stumm gewesen und die Lippen seien ihm trocken. Und sagte dann heiser gedämpft und sehr ernst:

„Mesdames, die Rosen sind meine Frauen. Ich begieße sie jeden Morgen und jeden Abend, ich pflege sie fehr. Wie kann ich Ihnen da Rosen schenken? Ich liebe sie sehr."

Eine Fran kam aus dem Hause, machte uns Zeichen und flüsterte, er habe heute seinen „unangenehmen Tag". „II est un peu mécontent" (Er ist ein wenig unzufrieden), sagte sie und erzählte noch, daß er wahrscheinlich wieder einmal seinen Anfall bekomme, er habe ihn lange nicht gehabt.

„Haben Sie denn nichts zu befürchten?" fragten wir. Sie lächelte: — „Nicht das geringste! Ich werde ihm, wenn ich die böse Stunde kommen sehe, einen Auftrag hinaus ins Feld geben. Tann mag er sich da austoben. Tas hat dann keiner gesehen, und er braucht sich nicht zu schämen, wenn er zurückkommt."

Sie sagte es schlicht und einfach und wie selbstverständlich. Sie haben's nach keinem Buche studiert, was sie an diesen Kranken tun, sie Haben's ererbt vom Vater auf den Sohn; es ist ihr Geschäft, das sie gern besorgen, ihr Broterwerb, in den sie hineingeboren sind. Die goldene Freiheit auch diesen Unglücklichen? Ach nein, in Gheel lächeln die Unglücklichen. Und doch muß ich daran denken, ob während der Beschießung Antwerpens diese Unglücklichen auch lächelten.

Als Antwerpens Mauern stürzten, brachte sich die belgische Regierung in Sicherheit, während das Volk die Schuld seiner obersten politischen und militärischen Leitung büßen mußte.

Eines hat mich übrigens gewundert: daß auf der Heerstraße über die belgisch- französische Grenze, bei Charleroi im gefürchten Borinage, unsere Truppen verhältnismäßig freie Bahn fanden. Ein Sonntag in Charleroi ist wie ein Werktag in der Hafenstraße Neapels. Hemdärmelig lagern sie in den Straßen, die weiten, schlotternden Hosen mit dem Gürtel zusammengehalten, das Hemd offen, die gebräunte Brust frei. Der Martt ist von Menschen überflutet wie ein Zigeunerlager. Pfeifend, johlend geht's in die cafes chantants und Fritüren hinein. Und Madame mit den Kindern lagert vor der Haustür, das Tellerchen mit den knusperigen Frites geht rund,Sang und Jubel und sorglose Leichtlebigkeit.

Ha, voila! Aus der Kirche heraus kommt eine Kindtaufe. Jurez, jurez! Scharen von Kinder strömen zuhauf, fassen den Rockschoß des Paten, rupfen, zupfen ihn, brüllen ihn mit Geschrei und Singen und Pfeifen an: „One Cent parain, one Cent parain.

«Eine Münze, Pate, eine Münze!" Und er muss streuen, streuen, bis sich die Schar in einem Wust zusammenwälzt und sich blutige Köpfe schlägt.

Aber der Borinage hat das deutsche Hurra ungeschmächt vorüberziehen lassen. Das französische Bive schlug eben wie eine Ohrfeige bei ihnen ein. Bruder Franzmann hat ihnen das Brot aus dem Schrank geräubert, und als der „verdammte Prussien" kam, hat dieser mit ihnen seinen trockenen Zwieback geteilt. Daß es die Deutschen auch nach der Eroberung Antwerpens, des letzten Stützpunktes der belgischen Macht, nicht an der nötigen Borsicht der Landesbevölkerung gegenüber fehlen lassen, insbesondere auf das schärfste gegen das Mitführen von Waffen vorgehen, ist nach den letzten Erfahrungen nur zu begreiflich.

 

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